Leseprobe: Das Märchen von der verlorenen Krone
Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal ein König, der hatte zwei Söhne. Die Gegend, in der sein Schloss stand, war so schön, dass jeder, der dorthin kam, glaubte, ein Stück des versprochenen Paradieses zu sehen. Vom Kamm des Riesengebirges stürzten wilde Bäche über hohe Felswände in die Tiefe. Ihr Rauschen glich einem stimmgewaltigen Chor, ihr Sprühen reinigte die Luft, gab den Bäumen Kraft und ließ saftige Wiesen auf den Berghängen grünen. Erst unten im Tal fanden die Bäche zueinander und ruhten sich in einem großen See aus, in dem so viele Fische herumschwammen, dass im ganzen Königreich keine Not herrschte.
Der König war aber schon alt und in der Stunde, in welcher der Tod seine Hand nach ihm ausstreckte, ließ er seine beiden Söhne zu sich kommen.
„Von altersher ist es Sitte, dass der Erstgeborene die Krone des Vaters übernimmt. So soll es auch fortan …“
Mitten im Satz brach die Stimme des Königs … und er verschied.
Der ältere der Söhne bedeckte mit seinen Händen die Augen des Vaters. In der Brust des Jüngeren aber brodelte die Enttäuschung. Hatte er nicht den älteren Bruder in jeglichem Kampf bezwungen? War er nicht der schnellere Reiter, der bessere Säbelfechter, der treffsichere Bogenschütze? Hatte nicht bei allen Turnieren der Vater ihm, dem Jüngeren, den Ehrenkranz des Siegers überreicht? Sollte er sich jetzt diesem Verlierer unterordnen, nur weil der zwei Jahre früher geboren war.
Nein! Das wollte er nicht. So fasste er einen grausamen Plan. Noch in der Trauernacht überredete er seinen älteren Bruder zu einem nächtlichen Spaziergang und stieß ihn dabei über eine Felswand hinab in den See. Am nächsten Tag erzählte er den Leuten, sein älterer Bruder sei in die Welt hinausgeritten, um sich eine Frau zu suchen, die es wert sei, die neue Königin zu werden. Bis zu seiner Rückkehr habe er ihm, dem Jüngeren, die Krone angetragen.
Diese gräßliche Tat lastete aber schwer auf dem neuen König. Von Tag zu Tag wurde er misstrauischer gegen alle Untertanen. Er fürchtet, es könne jemand trotz der dunklen Nacht den Sturz gesehen haben und diese Nachricht unter dem Volk heimlich verbreiten. Sein Argwohn wurde von Tag zu Tag größer. Blickte er aus seinem Fenster und sah zwei oder drei Männer miteinander reden, glaubte er gleich an eine Verschwörung.
Eines Tages hörte er Stimmen direkt unter seinem Schlafgemach. Vorsichtig streckte er seinen Kopf aus dem Fenster, um zu lauschen … da rutschte ihm die Krone vom Kopf und fiel über die Felsen hinunter in den See.
ENDE DER LESEPROBE